KAPITEL 0
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6

KAPITEL 8
KAPITEL 9

ENGLISH ABSTRACT
MAIL AN AUTOR

7.1 Ansehen
   7.1.1 Zutrauen
   7.1.2 Vertrauen

7.2 Aufmerksamkeit

7.3 Verbreitung und Nutzung

7.4 Folgerungen


Intrinsische Motive zu schenken, wie das im letzten Abschnitt des vorigen Kapitels aufgeführte, können eine große Bedeutung haben. Bei einer weitergehenden Untersuchung in diesem Bereich ließen sich noch einige Motive mehr identifizieren: Wenn wir den Menschen, wie das der Erkenntnistheoretiker Ian Hacking (1983) tut, als "homo depictor" verstehen, als Wesen, dessen charakteristische Eigenschaft es ist, die ihn umgebende Welt oder seine Auffassung von ihr in allen verfügbaren Medien darzustellen, dann ist die Existenz einer global einsehbaren Leinwand fast ausreichend, um die Produktion der Inhalte im Netz zu erklären. Auch beim Programmieren kann die Belohnung in der Arbeit selbst stecken: Wer einmal die ungeheure Faszination gespürt hat, die das Erstellen eines größeren Stück Codes mit sich bringt, das vielleicht auch noch funktioniert, kann möglicherweise nachvollziehen, warum sich manche Menschen die Nächte um die Ohren schlagen und sich vom Pizzabringdienst ernähren lassen, nur um das Endprodukt dieser Arbeit zu verschenken.

Meiner Einschätzung nach sind jedoch die intrinsischen Motive alleine nicht in der Lage, den riesigen Umfang der Geschenkökonomie in den Netzen plausibel zu machen. Gerade größere und wertvollere Geschenke, deren Herstellung hohe Zeitaufwände und eine starke Orientierung am Konsumentennutzen erfordert, die bisweilen mit dem Lustprinzip konfligiert, sind damit meist nicht zu erklären. Zudem versuchen rationale Menschen, selbst wenn ihnen eine Tätigkeit Freude bereitet, einen möglichen Zusatzprofit zu realisieren. Auch in den neuen Medien dämmert keine postirdische Gesellschaft heran, in der wir uns von den Zwängen und Planungsnotwendigkeiten des Diesseits verabschieden und eine auf gebender Selbstverwirklichung gegründete Gemeinschaft aufbauen können. Wenn die Funktionsweise der Geschenkökonomie geklärt werden soll, dann muß gezeigt werden, warum dieselben Menschen, die, wären sie 1870 ausgesetzt worden, ihre Mitmenschen vielleicht als Kohlebarone oder Textilzaren ausgeplündert hätten, es in einer Umwelt wie im Internet opportun finden, nach der Devise "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" zu tauschen. Es muß gezeigt werden, warum der Geschenkverkehr ein Weg sein kann, die mittelfristig ewigen menschlichen Ziele der Güterakkumulation und Erschließung besserer Handlungsräume zu erreichen.

Dieses Kapitel versucht, die Funktionsweise des Geschenkverkehrs im Netz nachzuzeichnen, indem dargestellt wird, was ein Schenkender als Gegengaben bekommt und wie er diese wiederum in Güter und Handlungsoptionen verwandeln kann.



Geschenke öffentlicher Güter im Netz werden im Gegensatz zu den archaischen Geschenkökonomien und ähnlich wie in der Wissenschaft fast nie durch Gegengeschenke beantwortet: Ich schicke jemandem, dessen FAQ mir weitergeholfen hat, keinen selbstgebackenen Kuchen zu. Bisweilen wird sicher Dankbarkeit ausgedrückt. Da die meisten Geschenke an eine weite Öffentlichkeit gehen, kann man ansonsten Reziprozität nur zwischen einer Person und dem Rest einer Gemeinschaft feststellen: Man gibt ihr und man nimmt von ihr. Die beiden Interaktionen stehen allerdings in keinem kausalen Verhältnis: Man kann auch nehmen, ohne zu geben.

Als direkte Gegengabe bekommt man Güter, die strategisch wertvoll sind: Zunächst finden wir hier wieder das symbolische Kapital Ansehen, das schon bei der Untersuchung des archaischen und des wissenschaftlichen Geschenkverkehrs als wichtigste Gegengabe identifiziert wurde. Im Kontext des Internets kommen noch zwei automatische Gegengaben zum Ansehen dazu, Aufmerksamkeit der Beschenkten und Verbreitung der Produkte, deren Generierung durch Geschenke und deren strategischer Wert jeweils untersucht werden.





7.1 Ansehen

In den öffentlichen Teilen des Netzes schenkt man als Person (was ein Mensch oder eine Organisation sein kann). Auf fast jedem Produkt steht der Name des Gebenden. Fast jeder Vermerk, der die Weiterverbreitung oder das Kopieren eines Gutes erlaubt, enthält die Bedingung, daß der Name des Schenkenden nicht verändert werden darf. Das Nehmen erfolgt dagegen anonym. Dadurch wird eine unidirektionale soziale Beziehung aufgebaut: Der Nehmende kennt den Geber, aber nicht umgekehrt. Für den Nehmenden existiert damit eine Person, der man Eigenschaften zuschreiben kann, die Ansehen besitzt. Die beiden im Netz strategisch wichtigsten Bestandteile von Ansehen sind Zutrauen und Vertrauen: Zutrauen ist die Einschätzung, daß jemand in der Lage ist, etwas zu tun, die Zuschreibung von Kompetenz. Vertrauen ist der Glaube, daß jemand ehrlich ist, also das tut, was er vorgibt zu tun, und daß er die Wahrheit sagt. Zutrauen und Kompetenz beziehen sich immer auf einen Bereich: Man kann ein schlechter Schwimmer sein und trotzdem ein guter Programmierer. Vertrauenswürdig ist dagegen die ganze Person in allen ihren Handlungen. Jemandem, der beim Pokern betrügt, sollte man auch beim Pferdekauf nicht trauen. Sowohl Vertrauen als auch Zutrauen kann man natürlich zu Organisationen genauso gut wie zu Menschen haben.





7.1.1 Zutrauen

Die Entstehung von Zutrauen ist leicht erklärbar: Das Geschenk im Netz ist sehr viel enger mit der Person des Schenkenden verknüpft, als bei den materiellen Gütern, die man z. B. zu Weihnachten austauscht, weil man im Internet üblicherweise ein Produkt seiner Fähigkeiten hergibt und nicht nur Besitz. Man schenkt hier durch sein Vermögen, nicht "aus seinem Vermögen" (wie in der in 2.1.1 zitierten BGB-Definition). Diese enge Verknüpfung des Geschenks mit den Fähigkeiten der Person finden wir auch in der Wissenschaft und in den archaischen Geschenkökonomien, in denen überwiegend Selbstgefertigtes gegeben wird. Sie ist eine wichtige Vorbedingung der Entstehung von Ansehen. Ein selbst produziertes Geschenk generiert immer eine positive oder negative Kompetenzvermutung. Im Netz ist diese Kompetenzvermutung allerdings fast durchweg positiv, wenn der ausgetauschte Gegenstand ein Gut für den Rezipienten ist. In den archaischen Gesellschaften kann auch ein geschenkter Fisch eines schlechten Fischers gut schmecken. Im Netz dagegen bringt es mir überhaupt nichts, ein Tutorial oder ein FAQ von jemanden zu lesen, der in diesem Bereich weniger weiß als ich. Das heißt, wenn ein informationelles Gut für mich wertvoll ist, schreibe ich dem Produzenten fast automatisch eine relativ hohe Kompetenz zu.

Ein Geschenk kann von Firmen als eine Aktion im Rahmen einer PR-Strategie gewählt werden: Im Gegensatz zu normaler Werbung, die zumindest einem großen Teil der Rezipienten auf die Nerven geht, also einen negativen Wert hat, wird hier der Kontakt zu einer für den Rezipienten positiven und Mehrwert generierenden Aktion genutzt. Zudem haben Geschenke den Vorteil, daß sie im Gegensatz zu Werbung die Qualität von Produkten, also die Kompetenz des Unternehmens, nicht behaupten, sondern beweisen: Das in 4.2.1 gebrachte Beispiel von DEC, das die Performance seiner Rechner mit Altavista demonstriert und nicht nur darüber redet, zeigt, wie diese Möglichkeit genutzt werden kann.

Viele Sites, die Produkte verkaufen, machen - wenn das möglich ist - einen Teil davon online zugänglich, um die Qualität überprüfbar zu machen: Von Research-Unternehmen ist meist ein "executive summary" ihrer Reporte frei zugänglich, jede Pornosite enthält ein paar Gratisnackte, bei einigen Datenbanken kann man auf Teilbestände umsonst zugreifen. Die Geschenke von Privatpersonen, bei denen selten ein verkäufliches Produkt hinter dem Geschenk steht, eröffnen diesen vor allem die Möglichkeit, sich selbst, also ihre Arbeitskraft, zu verkaufen.



In einem globalen Markt, in dem ein Käufer oft mit Tausenden von Verkäufern oder Dienstleistungsanbietern konfrontiert ist, die ähnliche Produkte offerieren, sind enge Selektionskriterien notwendig, wenn man sich nicht zufällig entscheiden möchte. Die zugeschriebene Kompetenz, von der man annimmt, daß sie sich in der Qualität der Produkte manifestiert, ist wie die Vertrauenswürdigkeit (bzw. Zuverlässigkeit) und der Warenpreis eins der entscheidenden Kriterien. Es lohnt sich deshalb fast immer, Zutrauen zu akkumulieren.





7.1.2 Vertrauen

Ökonomische Transaktionen sind gewöhnlich riskant: Selbst in einem direkten Tausch bei Präsenz beider Tauschpartner geht man gewisse Risiken ein: Beim Kauf einer Melone kann diese unreif oder das Geld gefälscht sein. Im Internet ist das Risiko, Opfer eines Betruges durch einen Geschäftspartner zu werden, aus vier Gründen bedeutend höher:

1. Es gibt keine Möglichkeit, daß bei einem Kauf oder Tausch beide Partner gleichzeitig ihre Verpflichtungen erfüllen. Eine Seite muß durch Angabe einer Kreditkartennummer oder durch Lieferung der Ware in Vorleistung gehen, und damit der anderen Seite de facto einen Kredit in Höhe des Kaufpreises oder Warenwertes für die Zeit zwischen Bezahlung und Lieferung geben.

2. Die Vertragspartner befinden sich oft in verschiedenen Ländern, was dazu führt, daß es für den Betrogenen sehr schwierig und aufwendig ist, den anderen in dessen Heimat juristisch verfolgen zu lassen.

3. Beide Parteien operieren unter Pseudonymen wie Emailadressen und Domain-Namen. Es ist nicht so einfach, herauszufinden, welcher Akteur hinter einem bestimmten Namen steckt, was die juristische Verfolgung erschwert.

4. Es kostet fast nichts, sich einen neuen Namen zu besorgen 1 : Das legt Betrügern die Strategie nahe, so lange zu betrügen, bis sich herumgesprochen hat, daß man unehrlich ist, und dann einfach unter einem neuen Namen anzufangen. Man verliert kaum etwas, wenn man einen schlechten Ruf hat, da eine neue saubere Weste sehr kostengünstig ist.

Betrug ist insgesamt sehr einfach durchführbar: Jeder Teenager kann ohne viel Aufwand einen virtuellen Pseudo-Megastore aufsetzen, der von einem echten Angebot eines großen Einzelhändlers kaum zu unterscheiden ist. Nachdem er dann ein paar Kreditkartenkonten leergeräumt hat, ohne zu liefern, verschwindet er oder startet ein neues Unternehmen (Economist 1996, 5). Auf der anderen Seite erleiden die ehrlichen Verkäufer bei Onlinegeschäften hohe Einnahmeausfälle, weil eine große Zahl von Kreditkartennummern ungültig oder gefälscht ist. 2 Wirtschaftlich gesehen ist das Hauptproblem aber wahrscheinlich nicht die Höhe des Betrugs im Netz, sondern die Tatsache, daß die Betrugsmöglichkeiten antizipiert werden und deshalb kaum Geschäfte zwischen Fremden stattfinden. Der Economist (1996, 5) sieht bei Onlinegeschäften nur eine Möglichkeit sicherzugehen: "[...] the best bet is to stick with real-world names you know [...]". Es gibt also nur die Möglichkeit, bei den wenigen Firmen, die man kennt, zu kaufen, was die Möglichkeiten des Verkaufs informationeller Produkte über das Netz drastisch beschränkt und fast nur für internationale Großkonzerne sinnvoll erscheinen läßt.

Ich denke, daß auch im Netz Vertrauen entstehen kann. Um nachzuvollziehen, wie das geschieht, muß man verstehen, warum bei Geschäften in der "echten" Welt normalerweise ein gewisses Grundvertrauen herrscht:

Ich kann bei dem Zeitungskiosk gegenüber von mir riskante und weniger riskante Geschäfte tätigen: Wenn ich eine Zeitung oder einen Kugelschreiber kaufe, habe ich vor Ort die Gelegenheit, die Ware zu prüfen. Bei Telefonkarten oder Lottoscheinen kann ich das nicht tun. Wenn ich eine Telefonkarte kaufe, muß ich dem Händler vertrauen, daß die Karte nicht leer ist 3 : Sollte sie doch leer sein, habe ich wahrscheinlich keine Möglichkeit, vor Gericht zu beweisen, daß ich sie bei diesem Kiosk gekauft habe und daß sie schon beim Kauf leer war. Warum vertraue ich diesem Händler und warum würde ich von einem mobilen Straßenhändler wahrscheinlich keine Telefonkarten kaufen?

Ich weiß, daß der Kioskbesitzer eine Summe von vielleicht DM 50.000 in sein Geschäft investiert hat. Wenn er einige Male betrügt, spricht sich das unter seinen ca. 1000 Kunden im Kiez schnell rum. Die Folge ist, daß keiner mehr bei ihm kauft, er seinen Laden schließen muß und damit einen großen Teil seiner Investition verliert. Wahrscheinlich würde der Pay-Off einiger Betrugsaktionen um Größenordnungen unter den verlorenen Investitionen liegen. Das bedeutet, daß der Händler in seinem Eigeninteresse ehrlich ist, ich könnte ihm sogar trauen, wenn es keine juristischen Sanktionsmöglichkeiten gäbe.

Mit der Investition einer bedeutenden Summe in die Errichtung eines Ladens stellt der Händler seinen Kunden ein Pfand: Er bindet die investierte Summe an seinen Ruf, an sein Ansehen. Wenn er sein Ansehen verliert, weil er als Betrüger angesehen wird, können und werden die Kunden seine Investition vernichten, indem sie keine Geschäfte mehr mit ihm tätigen. Das Pfand ist allerdings kein wirkliches Pfand: Der Verkäufer gibt seinen Käufern keine Kaution, nichts, was für diese Wert besitzt: Seine Investition ist eher mit dem Stellen einer Geisel vergleichbar, deren Besitz und Vernichtung den Käufern nichts bringt. D. h. die Kunden werden seinen Ruf und seine Investition nur dann vernichten, wenn der Verkäufer seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Wenn der Verkäufer ihnen einen für sie verwendbaren materiellen Wert als Pfand geben würde, bestünde für die Kunden ein Anreiz zu betrügen, indem sie sich mit dem Pfand davonmachen.

Geschäftsleute, die keine oder eine zu geringe Investition an ihren Ruf gebunden haben, kommen bei riskanten Geschäften nicht in Betracht: Man kauft wahrscheinlich keine Telefonkarten auf der Straße (es sei denn, es ist eine Zelle in der Nähe, in der man die Gültigkeit direkt überprüfen kann), genausowenig wie vorsichtige Menschen ihr Geld bei "Privatbank Inter-Credit, 2. Hinterhof, 4. OG re., bei Schneider klingeln" anlegen. 4

Im Netz, in dem bei vielen Geschäften die Möglichkeit einer juristischen Verfolgung nicht gegeben ist, müßte eine Investition in den eigenen Ruf das gesamte Vertrauen generieren, das dazu nötig ist, damit ein Käufer mit seiner Zahlung in Vorleistung tritt und die Lieferung des Verkäufers abwartet. Da die Errichtung einer Online-Verkaufsstelle im Gegensatz zum Eröffnen eines Kiosks fast kein Geld kostet, muß Geld künstlich vernichtet werden, um eine Investition an den Ruf zu binden.

Dabei sind viele Möglichkeiten denkbar: Man könnte das Geld z. B. öffentlich an eine karitative Einrichtung spenden oder es verbrennen. Man kann es aber auch in Form von Geschenken vernichten: Wahrscheinlich ist das Geschenk meistens die präferierte Form, weil man mit dieser Methode der Geldvernichtung eine größere Aufmerksamkeit generiert und Verbreitungseffekte nutzen kann (Vgl. 7.2 und 7.3). Wenn jemand ein Produkt, wie z. B. die Windows-Socket-Emulation Trumpet-Winsock (vgl. www.trumpet.com.au) herstellt, in dem sicher einige Mannmonate oder -jahre Entwicklung stecken, und dieses Produkt verschenkt, genießt er Vertrauen bei den Beschenkten: Sollte Peter Tattam, der Schenkende, eine Folgeversion oder ein anderes Programm mit bestimmten neuen Features herstellen, dann werde ich, wenn ich glaube, daß ich dieses Produkt brauche, bei ihm kaufen. Ich gehe davon aus, daß der Produzent seinen Ruf, in den er sehr viel Zeit investiert hat, nicht wegen ein paar tausend oder zehntausend Dollar, die ihm ein Betrug brächte, vernichtet. Ich kann mir also sicher sein, daß die angegebenen Features in dem neuen Produkt wirklich enthalten sind. Bei einem mir unbekannten Händler, der nichts verschenkt hat, sehe keine Investition in den Ruf. Eventuell würde sich für ihn ein Betrug lohnen, ich werde dort also nicht kaufen. Letztlich beruht die vertrauensgenerierende Wirkung von Geschenken also auf der Antizipation der jeweiligen optimalen und rationalen Strategie des Gegenübers und weniger auf Emotionen wie Dankbarkeit.

Wir können das Geschenk im Netz als ein Pendant zur materiellen Investition eines Ladenbesitzers sehen. Erst durch Vernichtung von Geld und Bindung dieser Investition an den eigenen Ruf kommt ein Akteur in den Genuß von Vertrauen, das die Vorbedingung für Geschäfte ist. Hier ist der durch Geschenke erworbene Ruf das Pfand oder die Geisel, die der Verkäufer dem vorleistenden Käufer in die Hand geben muß, um von ihm Kredit für die Zeit zwischen Zahlung und Lieferung zu bekommen. Das Geschenk muß sich natürlich nicht in der Herstellung eines kompletten Produktes materialisieren. Möglich wäre z. B. auch eine rege Partizipation im USENET. Wichtig am Geschenk ist nicht der Nutzen für den Beschenkten, sondern das Opfer für den Schenkenden, deshalb ist wie oben erwähnt im Prinzip jede Form der Vernichtung knapper Ressourcen wie Zeit oder Geld denkbar. 5

Das Geschenk ist eine Form der Interaktion, die eine dauerhafte Beziehung, ein zumindest einseitiges Vertrauensverhältnis, zwischen den Akteuren generiert. Diese dauerhafte Beziehung ist im Netz notwendig, weil der einfache Tausch Ware gegen Geld zwischen anonymen Marktteilnehmern nicht möglich ist. Aufgrund der technischen Verhältnisse erfordert jeder Tausch im Netz, daß eine Seite der anderen Kredit gibt. Ansehen bedeutet - wie wir bereits bei den archaischen Geschenkökonomien gesehen haben - Kredit.

Wenn jemand Vertrauen genießt, wird bedeutungsvolle Kommunikation über die Verläßlichkeit anderer Marktteilnehmer möglich. Akteure, die ein gewisses Vertrauen gewonnen haben, können anderen Akteuren raten, bei Dritten zu kaufen oder nicht zu kaufen. Diese Ratschläge wären in einem vertrauenslosen Stadium unbrauchbar, da man immer von der Möglichkeit ausgehen muß, daß ein Akteur die betrügerische Firma eines Freundes empfiehlt und von der ehrlichen eines Konkurrenten abrät. Wenn ein anfängliches Vertrauen entstanden ist, kann das Gesamtrisiko bei Geschäften sehr stark fallen, weil es Akteure gibt, deren Risikoeinschätzung man vertraut.

Das Vergeben von Geschenken ist eine Alternative zu der traditionellen politischen Lösung des Vertrauensproblems, der gemeinsamen Installation eines Leviathans, der über die Einhaltung von Recht und Verträgen wacht. Es ist - wenn man so will - ein alternatives Vergesellschaftungsmodell. 6 Im Netz ist diese Art der Vergesellschaftung m. E. sinnvoll und der von den meisten Usern präferierte Modus. Die Leviathans, die gerade dabei sind, das Internet durchzuverrechtlichen, genießen aus bestimmten Gründen wenig Vertrauen und noch weniger Zutrauen der meisten Nutzer. 7



7.2 Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeit genießt jemand, wenn sich ein Rezipient mit von ihm produzierten informationellen Gegenständen beschäftigt. Aufmerksamkeit gibt ein Rezipient dem Produzenten von Information automatisch als Gegengabe. Es ist die Zeit, in dem der Produzent dem Rezipienten etwas mitteilen kann. In einer Situation, in der mehrere Informationsangebote miteinander um die Gunst der Rezipienten konkurrieren, wird Aufmerksamkeit knapp. Das gilt ganz besonders für das Netz, wo Millionen von Sites nach Rezipienten Ausschau halten. Aufmerksamkeit ist eine per se knappe Ressource in Kommunikationsprozessen, weil sie im Gegensatz zu Information nicht technisch hergestellt oder reproduziert werden kann. 8

Der nichtmassenmediale Alltag ist konfrontativ. Hier kann man mit Wolkenkratzern, Demonstrationen oder durch lautes Schreien Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die klassischen Massenmedien werden hingegen von den Rezipienten aufgesucht, die ihre Aufmerksamkeit bei ihnen eine Weile abgegeben. Die Massenmedien leben hauptsächlich davon, daß sie diese Aufmerksamkeit verwalten und den Zugang zu ihr stückweise an Werbekunden weiterverkaufen. Um die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu gewinnen, muß man im Allgemeinfall zahlen.

Im Netz gibt es einerseits Foren wie das USENET, bei denen man durch ein Posting automatisch Aufmerksamkeit genießt, andererseits das Web, in dem man ohne Link irgendeines anderen Anbieters auf die eigene Site sicher nie gefunden wird. Die konfrontative Öffentlichkeit im USENET hat den Vorteil, daß sich auch die Akteure, die man nicht aufsuchen würde, um ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, diese erzwingen können. Und sie hat eben jenen Nachteil: Da ein Posting extrem billig ist und man oft Zigtausende von Menschen ansprechen kann, lohnt sich hier Werbung, auch wenn nur ein winziger Bruchteil der Adressaten darauf reagiert: Spamming, das Bombardieren von Leuten mit Werbenachrichten, wird zu einer ökonomisch rationalen Handlung, auch wenn man sicher sein kann, daß fast alle Rezipienten diesen Mißbrauch ihrer Aufmerksamkeit hassen. 9

Im Web läßt sich Aufmerksamkeit durch eine geschickte Positionierung in den Aufmerksamkeitsverteilern, den Indizes und Suchmaschinen, gewinnen, oder man kauft sie sich gleich über Bannerwerbung. Man kann Aufmerksamkeit auch als Tauschgut behandeln: Das System des Linkexchange (www.linkexchange.com) funktioniert als Anbringen von Bannerwerbung oder Links auf den eigenen Seiten, die auf die eines anderen zeigen, der wiederum einen Link auf mich anbringt.

Viele Firmen, die wissen, daß sie keine Möglichkeit haben, sich mit ihrer Website analog zu einer Werbesendung Aufmerksamkeit zu erzwingen, versuchen diese über Geschenke zu gewinnen. Ein Geschenk ist ein Weg, die Quelle der Aufmerksamkeit, den Rezipienten, als rationalen Akteur zu behandeln und ihm für die Verleihung etwas zu geben:

Wenn ich ein wertvolles Gut zu verschenken habe, ist es für potentielle Rezipienten sinnvoll, mich aufzusuchen. Das bringt sie aber noch nicht zu mir. Dadurch, daß aber Links oder Hinweise auf wertvolle Geschenke selbst ein Gut sind, kann ich davon ausgehen, daß andere die Möglichkeit wahrnehmen, hier ein relativ billiges, aber nützliches Geschenk zu generieren. Für Sites, auf denen man z. B. Spieledemos oder Sharewarespiele bekommt, gibt es unzählige Verzeichnisse, für Werbeseiten von Spieleherstellern kaum welche. Wertvolle Geschenke haben normalerweise kaum Aufmerksamkeitsprobleme.

Der Tausch von Geschenken gegen Aufmerksamkeit ist eine Wendung zur Marktwirtschaft: In einer Instrumentalisierung des Smith'schen Arguments für die Geschenkökonomie könnte man sagen, der Aufmerksamkeitssuchende "wird sein Ziel wahrscheinlich viel eher erreichen, wenn er deren [d. i. der Rezipienten] Eigenliebe zu seinen Gunsten zu nutzen versteht, indem er ihnen zeigt, daß es in ihrem Interesse liegt, das für ihn zu tun, was er von ihnen wünscht". 10 Er wünscht, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, und nutzt ihre Eigenliebe zu seinen Gunsten, indem er ihnen etwas schenkt. In gewisser Hinsicht findet hier eine Emanzipation des Rezipienten zum ökonomischen Subjekt statt: Anstatt daß die Aufmerksamkeit einfach durch Positionierungstrickser oder Spammer wie ein Bodenschatz technisch abgebaut wird, kommt sie zurück in die Verfügungsgewalt ihres Produzenten, den man wie ein rationales Subjekt behandeln und dem man ein Geschäft anbieten muß, um sie zu erlangen. Aufmerksamkeit hat im Netz einen Preis, den man an ihre Besitzer entrichten muß.



Aufmerksamkeit zu bekommen ist deswegen wertvoll, weil sie eine Vorbedingung jeglicher Interaktion ist: Ohne sie lassen sich weder Geschäfte tätigen, Schenkakte durchführen, noch kann man informieren oder beeinflussen. Um Macht oder Reichtum akkumulieren zu können, ist Aufmerksamkeit also zumindest im Netz eine unumgehbare Voraussetzung. Auch Ansehen, also Zutrauen oder Vertrauen, kann ich nur von jemandem gewinnen, der mir Aufmerksamkeit schenkt.

Es gibt die Möglichkeit, direkt durch Aufmerksamkeit zu Geld zu kommen: Z. B. indem man auf der Website, auf der man etwas verschenkt, Dienstleistungen anbietet oder auf eigene kommerzielle Sites hinweist. Aufmerksamkeit allein ist jedoch nur eine Vorbedingung für dieses Anschlußgeschäft. Um den Rezipienten von der Qualität zu verkaufender Güter zu überzeugen, muß der Produzent noch ein dementsprechendes Ansehen genießen. Normalerweise wird ein Schenkender einen Zipfel von Aufmerksamkeit deshalb zunächst dazu nutzen, diese zu vergrößern und sein Kapital an Ansehen weiter aufzustocken, um langfristig gesehen eine bessere Position im Verteilungskampf um Stellen, Kunden und Macht zu bekommen.





7.3 Verbreitung und Nutzung

Vor allem im Bereich der dynamischen Information, das sind Datenbanken oder Programme, ist Verbreitung und Nutzung eines Produktes ein Kapital an sich, auch wenn das Produkt selbst nicht verkauft wird, sondern frei ist.

Fast jedes technische Artefakt benutzt und benötigt Netzwerkeffekte zu seiner Verbreitung: Wenn ich der einzige Mensch mit Telefonanschluß bin, bringt mir dieser relativ wenig, weil ich mit mir selbst auch ohne Telefon sprechen kann. Der Nutzen des Telefons für mich wächst mit der Zahl der Menschen, die auch so ein Gerät besitzen. Zudem ist in einer Marktwirtschaft die Chance hoch, daß bei einer Verbreitung einer Technik neue Anbieter in den Markt drängen, die die Preise für die Geräte senken und verbesserte entwickeln. Außerdem entsteht um eine weitverbreitete Technik ein Schwarm von Zusatzdiensten und Geräten, die den Nutzen einer Technik steigern: Das wären beim Telefon der Anrufbeantworter, die Telefonauskunft oder das Faxgerät. Die positiven Effekte einer Verbreitung führen zu einer weiteren Verbreitung, umgekehrt führt eine geringere Verbreitung gegenüber einem konkurrierenden Produkt oft zu einer Abwärtsspirale, auch wenn das seltenere Produkt besser ist. Wir erleben diesen Mechanismus alle paar Jahre im Home-Consumer-Markt, wenn sich die Konzerne nicht auf einen Standard einigen können: Dann geht die Technik mit der geringeren Verbreitung, wie z. B. das Videoformat "betamax" mit wehenden Fahnen in der Spirale unter.

Dieselben Effekte zeigen sich bei Softwareprodukten, die über das Netz verteilt werden: Perl wird erst durch seine Verbreitung richtig nützlich, weil man Programme für eine größere Gruppe von Leuten schreiben kann, die den Interpreter installiert haben. Es werden Module entwickelt, die die Verwendbarkeit steigern. Produzenten anderer Softwareprodukte achten auf Schnittstellen und eine evtl. nötige Kompatibilität zu Perl. Eine weiterer Vorteil bei der freien Verbreitung von Software ist, daß die Entwicklergemeinde normalerweise mit der Nutzergemeinde steigt: Je mehr Leute Bugs finden oder Bug-Fixes vorschlagen und an Portierungen mitarbeiten, desto sicherer und reifer wird das Produkt.

Auch im Netz angebotene Dienste, wie Suchmaschinen oder Verzeichnisse, sind auf Netzwerkeffekte angewiesen: Für die Registrierenden wird ein Dienst desto wertvoller, je mehr Rezipienten in ihm suchen. Für die Rezipienten gilt dasselbe umgekehrt. Auch hier gibt es für die größeren Dienste Zusatzangebote wie Multi-Search-Maschinen (die mehrere Dienste durchsuchen) 11 , Multi-Submit-Sites (die die Registrierung bei mehreren Diensten vereinfachen) 12 oder Positionierungsmesser (die die Position einer Site bei der Eingabe eines bestimmten Suchbegriffes feststellen). 13

Die Verbreitung und Nutzung steigert normalerweise den Wert eines Produktes für die User. Das bringt dem Produzenten noch keinen direkten Return, weil das Produkt ja verschenkt wird. Zunächst einmal steigert sich bei einer Verbreitung seiner Güter automatisch die Reputation und die Aufmerksamkeit, die er genießt. Er kann diese beiden Güter, die Handlungsoptionen für ihn eröffnen, ohne den Verbreitungseffekt selbst nutzen: Die Entwicklern des bekannten Textbrowsers "Lynx" haben z. B. inzwischen fast alle gut dotierte Positionen bei Netscape gefunden (Vgl. Grobe, Mail an mich (1), Appendix).

Interessanter ist es aber noch, wenn Verbreitung direkt genutzt wird, um nach dem Geschenk Anschlußgeschäfte zu tätigen: Hier gibt es mindestens fünf Strategien:

1) Verschenke das Pferd, verkaufe den Steigbügel. Beliebt ist der Verkauf von Manuals zu freien Produkten (die Autoren von "Pegasus Mail" machen das z. B.) oder das Herausgeben richtiger Bücher zu Produkten (Wall hat das bei Perl gemacht): Ein Softwareproduzent, der Bücher oder Add-Ons zu seinem freien Produkt verkauft, hat den Vorteil, daß er sehr viel mehr Aufmerksamkeit genießt als potentielle Konkurrenten und daß ihm das beste Produkt zugetraut wird. Natürlich kaufe ich eine in die Tiefe gehende Einführung in Perl eher vom Autor der Sprache, Larry Wall, als von Joe Anonymous. Der Produzent eines Geschenkes hat hier direkt etwas von der Verbreitung, weil jeder Beschenkte ein potentieller Kunde eines Zusatzproduktes ist.

2) Verschenke das erste Gut. Wenn es verbreitet ist und sich die Leute daran gewöhnt haben, verkaufe das Update. In der Drogenszene wird diese Strategie als "Anfixen" bezeichnet: Die Nutzer haben sich an ein Programm gewöhnt und haben es mit dem Rest ihrer Software zu einem stabilen System konfiguriert. Wenn das Update sinnvolle Features enthält und nicht zu teuer ist, werden sie versuchen, beim selben Programm, dem sie eine verläßliche Problemlösung zutrauen, zu bleiben. Die bereits erwähnte Windows-Socket-Emulation "Trumpet Winsock" ist ein Beispiel für diese Strategie. Version 1 war frei. Version 2 kostet etwas. Alternativ dazu kann man natürlich auch das erste Produkt in einem bereits reduzierten Funktionsumfang oder mit limitierter Benutzungsdauer verschenken und eine Vollversion davon nur gegen Bezahlung zugänglich machen.

3) Verschenke das Gut an die, die ohnehin nicht bezahlen würden. Damit gewinnst du Verbreitung. Kassiere bei denen ab, die zahlen können. Der Netscape Communicator ist für die nichtkommerzielle Nutzung frei und gewinnt daher seine Verbreitung. Wäre er nicht frei, würde der normale Home-User wahrscheinlich den Internet Explorer benutzen. Von den kommerziellen Kunden, für die der recht niedrige Preis keine so große Rolle spielt, die aber den gängigsten Browser benutzen wollen, wird dann die kostenpflichtige Registrierung verlangt.

4) Verschenke das eine Produkt an eine Gruppe und verkaufe ein kompatibles Gegenstück an eine andere: Netscape verschenkt Clients (teilweise) und verkauft Webserver. Durch die Verbreitung ihrer Clients, die bestimmte Features wie Secure-Transmission-Protokolle besitzen, haben die Netscape-Webserver, die diese Eigenschaften ausnutzen, einen gewichtigen Mehrwert gegenüber den konkurrierenden Servern (Netscape 1997). Sun macht es in gewisser Hinsicht andersherum: Die Entwicklungsumgebung für Java ist frei, aber Hersteller von Clients, die einen Java-Compiler einbauen wollen, müssen zahlen (Sun 1997).

5) Investiere viel Geld in ein erstklassiges Produkt. Verschenke es auf absehbare Zeit, bis alle Konkurrenten aus dem Rennen sind. Wenn du Monopolist bist, werden dir tausend Wege einfallen, die Nutzer zur Kasse zu bitten. Microsoft scheint mit dem Internet Explorer gerade diese Schiene zu fahren.





7.4 Folgerungen

Sowohl Ansehen, als auch Aufmerksamkeit haben natürlich einen nicht zu unterschätzenden intrinsischen Wert; für Menschen als Herdentiere ist ihre Reputation ebenso wichtig wie die Beachtung ihrer Äußerungen. Beim strategischen Schenken sind Ansehen, Aufmerksamkeit und die Verbreitung eigener Produkte aber nur Zwischengüter, die sich dazu nutzen lassen, weitere Güter zu erlangen. Fast jedes einigermaßen wertvolle Geschenk bringt dem Schenkenden zumindest eines der genannten Güter, die er in Folgehandlungen in Zielgüter umwandeln kann.

Voraussetzung für das Funktionieren des strategischen Schenkens sind die im letzten Kapitel beschriebenen Produktionsverhältnisse: Dadurch, daß eine Kopie eines Geschenkes fast keine zusätzlichen Kosten verursacht, liegt der Wert der Aufmerksamkeit, des Vertrauens und der Verbreitung, die ich selbst vom wertlosesten Kunden bekomme, fast immer über den Kosten für die zusätzliche Kopie. D. h., wenn ich schenke, werde ich die Gabe immer allen zugänglich machen. Bei teureren Kopienkosten von Produkten wären viele der Strategien, die auf Geschenken basieren, nicht möglich: Mercedes-Benz z. B. könnte die in 7.3 beschriebene Strategie 1 nicht fahren, da es sehr unwahrscheinlich ist, über den Verkauf von Bedienungsanleitungen oder Ersatzteilen die gewaltigen Produktionskosten eines Wagens hereinzubringen. Das bedeutet, daß diese Geschenkökonomie ein genuines Verkehrssystem für das Netz ist und nur bedingt in andere Produktions- und Kommunikationssphären übertragen werden kann.

Im Gegensatz zur archaischen Geschenkökonomie beruht der Güterverkehr im Netz nicht auf Reziprozität von Geschenken. Das heißt, daß es unmöglich ist, den Aufwand für ein Geschenk durch Gegengeschenke wieder hereinzubekommen. Dies wiederum setzt voraus, daß es eine andere Ökonomie geben muß, in der sich der Aufwand amortisiert. In der Wissenschaft ist das ein staatsfinanziertes System von Stellen und Forschungsgeldern, in dem die Zwischengüter in Gehälter und Forschungsmittel umgetauscht werden können. Die Geschenkökonomie im Netz ist zum Umtausch der Zwischengüter auf die normale marktwirtschaftliche Geldökonomie angewiesen. Das bedeutet, daß das System des strategischen Schenkens nicht mehr funktionieren würde, sobald es der einzige Verkehrsmodus ist. Es ist also kein postkapitalistisches oder -monetäres Austauschsystem, weil es immer auf die Geldwirtschaft angewiesen ist.

Die Geldwirtschaft kann allerdings vergleichsweise klein im Gegensatz zu dem Bereich des geschenkökonomischen Verkehrs sein: Für Larry Wall ist es strategisch sinnvoll, Güter im Wert von $ 100 Mio. 14 zu verschenken, wenn er damit vielleicht $ 1 Mio. an Return über die Zwischengüter bekommt, den er andernfalls - wenn er nicht geschenkt hätte - auf keinen Fall hätte erzielen können. In einem gekoppelten System von Geschenk- und Geldwirtschaft kann also bei geringen Geldwirtschaftsumsätzen ein hohes Vielfaches an Umsätzen der geschenkten Güter erreicht werden.

Durch die notwendige Koppelung an eine Geldwirtschaft kann eine Geschenkökonomie sozial ungerecht sein, weil hier ein gewisser Matthäus-Effekt 15 auftritt: Geschenke lohnen sich sehr viel mehr, wenn sie an eine kaufkräftige Klientel gehen, weil man hier Ansehen, Verbreitung und Aufmerksamkeit in höhere Geldbeträge umsetzen kann. 16 Wenn ich ein Geschenk herstellen würde, das nur den wirklich Armen nützt, kann ich kaum davon ausgehen, daß ich in Anschlußgeschäften viel verkaufen werde. Allerdings wird dieser Matthäus-Effekt dadurch gemildert, daß ärmere Menschen keine völlig anderen Bedürfnisprofile haben als reichere, so daß für sie, auch wenn sie nicht Zielgruppe sind, Brosamen abfallen. Außerdem kann man sich Methoden wie die Strategie 3 des vorigen Abschnittes vorstellen, in denen weniger zahlungskräftige Kunden beschenkt werden und dadurch für zahlungskräftigere ein Anreiz entsteht, etwas zu kaufen.

Ein weiterer Matthäus-Effekt tritt auf der Produktionsseite auf: Das Ansehen steigt weder proportional zum Arbeitsaufwand noch zum einfachen Wert eines hergestellten Gegenstandes: Wenn zwei Geschenke miteinander um eine Marktnische konkurrieren, wird sich oft das bessere völlig durchsetzen, was zur Folge hat, daß gute Leistung überproportional belohnt wird und eine etwas schlechtere überhaupt nicht mehr: The winner takes it all. Dieses Problem kann dadurch gelöst werden, daß ähnlich wie in der Naturwissenschaft jeder Produzent von Geschenken sich eine Nische sucht, in der er etwas völlig originelles beiträgt, das durch kein anderes Geschenk substituierbar ist. Ein ernstzunehmenderes Problem ist die ungerechte Entlohnung von Teammitgliedern, die an einem Produkt arbeiten: Auch hier wird eine übermäßig hohe Belohnung an Zwischengütern, die nicht mit dem Arbeitsaufwand proportional ist, an den Hauptautor oder Erfinder gehen, während die Wasserträger, die vielleicht etwas weniger gearbeitet haben, nur Ansehens- und Aufmerksamkeitskrümel bekommen: Linux heißt z. B. nur nach seinem Haupterfinder Linus Torvalds, obwohl Tausende an dem Betriebssystem mitgearbeitet haben. Hier ist wieder eine Parallele zur ähnlich austauschenden Wissenschaft zu ziehen, in denen die Akkumulation von Ansehen und Aufmerksamkeit auf wenige schon seit langem bekannt ist. 17



Die Geschenkökonomie ist eine Form des Güterverkehrs, die in bestimmten Medienräumen die Geldökonomie in Nischen verdrängen kann, weil sie über diese dominiert: Sobald es für eine einigermaßen große Anzahl von Menschen rationale Gründe gibt, etwas zu schenken - und ich habe in diesem Kapitel gezeigt, daß es diese gibt - haben Produkte, die verkauft werden, einen schweren Stand: Es ist nicht nur der Verkaufspreis, der Menschen dazu bringt, ein freies Produkt zu wählen: Eine Rolle spielt die Möglichkeit, das Produkt vor der Entscheidung, ob man es wirklich haben möchte, vollständig testen zu können. Dazu kommt, daß kleinere Waren wie Einzelinformationen wegen der Transaktionskosten des Kaufes einen natürlichen Nachteil gegenüber freien Produkten haben. Ein weiterer Grund ist die Tatsache, daß wertvolle Geschenke automatisch eine große Aufmerksamkeit genießen, die für kommerzielle Produkte erst durch teure Werbung generiert werden muß. Ein kostenpflichtiges Produkt kann m. E. deshalb nur, wenn es sehr große Vorzüge besitzt, mit einem freien konkurrieren. Die Geldökonomie ist also gezwungen, sich in Nischen zurückzuziehen, in denen das Schenken (oder die Herstellung mittels des koproduktiven Patchworking) nicht praktikabel ist: Das sind zum Beispiel Produkte für einzelne Kunden wie Beratungsdienstleistungen, Seminare oder Spezialprogramme, bei denen man aufgrund der kleinen Rezipientengruppe nur sehr geringe Ansehens- und Aufmerksamkeitsgewinne erzielen kann. Andere Beispiele sind Produkte, bei denen eine Kopie zu viel kostet, als daß man schenken würde: Wie ich in diesem und in Kapitel fünf gezeigt habe, wird oft im Internet verschenkt, während in den Altmedien Ergänzendes wie Handbücher oder Einführungen verkauft wird. Wieder andere Gegenstände, bei denen man auch empirisch einen geringeren Anteil des Geschenkverkehrs feststellt, sind solche, bei denen der Produzent, obwohl seine Geschenke als Gut betrachtet werden, nicht unbedingt positives Ansehen gewinnt, weil die Geschenke tabuisierte Gegenstände sind: Für Pornographika gab es schon sehr früh kostenpflichtige Sites (Vgl. 4.1.2). Ansonsten gibt es kaum Grenzen für die Geschenkökonomie: Inzwischen werden selbst Gegenstände, die eine sehr hohe Entwicklungsinvestition voraussetzen, wie der Internet Explorer oder Java als Programmiersprache, verschenkt.





Fußnoten 1 Eine Website mit eigenem "com"-Domainnamen kostet bei meinem Provider (www.pair.com) ca. $ 40 im Monat. Eine Emailadresse ist noch bedeutend billiger.

2 Das ist allerdings kein spezifisches Problem von Online-Transaktionen, sondern von allen Telegeschäften, wie auch dem Kauf per Telefon oder schriftlicher Bestellung. Vgl. für die Sexindustrie: Economist (1997,1).

3 Selbst wenn er ein Displaygerät besitzt, das die Karte prüft, könnte er es umprogrammiert haben.

4 Je höher das Risiko bei einer Transaktion wird, desto wertvoller muß natürlich das Pfand sein. Bei Geschäften am Kiosk geht man keine großen Risiken ein. Anders ist es im Bank- oder Versicherungssektor, in dem man den Unternehmen oft ganze Vermögen anvertraut: Die Tatsache, daß Banken und Versicherungen ihre Hauptsitze oft in riesigen, repräsentativen Wolkenkratzern in den Zentren haben, kann man vielleicht als kommunikativen Akt erklären. Die Gebäude sagen den Kunden: "Wir haben sehr viel investiert. Wir machen uns nicht morgen aus dem Staub. Vertraut uns!"

5 Auch beim Potlatsch nordamerikanischer Völker beobachtet Mauss (1990: 86f.), daß das Verschenken von Gütern und das Vernichten teilweise völlig austauschbare Strategien sind, um an Reputation zu gewinnen: Man muß einfach sein Eigentum loswerden. Ob es danach aus der Welt ist, oder einem anderen gehört, spielt dabei keine Rolle.

6 Vgl. dazu Simmel (83: 211), der die durch Geschenke erzeugte Dankbarkeit zwar als "lyrischen Affekt" sieht, aber feststellt, daß sie "[...] durch ihr tausendfaches Hin- und Herweben innerhalb der Gesellschaft zu einem ihrer stärksten Bindemittel [wird]". Die von mir beschriebene Vergesellschaftung baut auf der eher unlyrischen eiskalten Berechnung auf, daß jemand sein durch Geschenke erworbenes Ansehen nicht durch einen Betrug vernichtet.

7 Das Vertrauen der Nutzer in Politiker ist sehr gering (GVU 1997, 5). Der überwiegende Teil der Nutzer wünscht sich interessanterweise nicht einmal bei explizit als unerwünscht und unfair betrachteten Verhaltensweisen von anderen Akteuren, wie z. B. dem Spamming, staatliche Regelungen (GVU 1997, 6). Man nimmt also eher Nachteile in Kauf, als einem als feindlich empfundenen Staat die Gelegenheit zu geben, einen Fuß in Tür des Internets zu bekommen.

8 Vgl. dazu Goldhaber (1997,1) der Kommunikation primär als Austausch von Aufmerksamkeit sieht, nicht als Austausch von Information und auf dieser Erkenntnis eine Ökonomie mit dem zentralen Verkehrsmittel Aufmerksamkeit in den Netzen aufziehen sieht. Vgl. auch die kritischen Anmerkungen von Gosh (1997) dazu und Goldhabers Antwort (1997, 2).

9 Spamming verursacht negative gesamtwirtschaftliche Effekte, obwohl es eine rationale Handlung ist. Es wäre gesamtwirtschaftlich gesehen sinnvoller, wenn Postings oder Emails einen höheren Preis hätten. Einen mathematischen Nachweis dafür liefert Shiman (1996).

10 Smith (1974: 16 f.) oder vgl. das Zitat in 2.3

11 Z. B. www.metacrawler.com

12 Z. B. www.liquidimaging.com/submit/

13 Z. B. http://www.scorecheck.com/

14 Kommerzielle Interpreter für Programmiersprachen liegen vom Preis normalerweise im dreistelligen Dollarbereich. Bei einer halben Million Nutzer (Vgl. 5.1) könnte man den Wert des Geschenks von Perl an alle in einem dreistelligen Millionenbereich ansetzen. Natürlich wurde nicht das ganze Geschenk von Wall alleine produziert.

15 Nach Matthäus 13,12 (Bibel 1996): "wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat."

16 Vgl. 3.2, wo ich argumentiert habe, daß unter UNIX-Benutzern eher Geschenke zirkulieren als unter DOS-Nutzern, weil die UNIX-Gemeinde mehr Mittel zur Verfügung hat, diese Geschenke zu belohnen.

17 Vgl. Merton (1968), Merton (1988) und Price (1963).




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