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ENGLISH ABSTRACT
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3.1 Die Wissenschaft

3.2 Die UNIX-Szene

3.3 Die Technolinke

3.4 Die Bedeutung der Geschichte


Nach zwei Kapiteln mit eher einführendem Charakter beginnt hier der Einstieg ins Netz. Ich werde in diesem Teil die Entstehungsgeschichte der Geschenkökonomie im Internet rekapitulieren. 1 Der Grund dafür ist, daß der Geschenkverkehr im Netz nicht völlig aus den technischen Kommunikationsbedingungen herzuleiten ist. Technik determiniert nie völlig, sie öffnet lediglich Optionenräume, in denen bestimmtes möglich ist und anderes nicht. Zumindest teilweise ist die Geschenkökonomie im Netz kontingent, nicht durch die Technik bedingt, sondern ein Produkt der Ideologien und Kommunikationsstrategien, die die ersten Siedler mitbrachten und entwickelten.

Deshalb sollen hier drei der wichtigsten Herkunftslinien der Geschenkökonomie zurückverfolgt werden: Die Wissenschaft, die UNIX-Szene und die Technolinke. Die Kommunikationsgewohnheiten und ideologischen Einstellungen der Akteure dieser drei Gruppen haben die Geschenkökonomie zur dominierenden Verkehrsform im Netz gemacht. Im vierten Abschnitt wird die Bedeutung der historischen Weichenstellungen für das heutige Netz dargestellt.



3.1 Die Wissenschaft

Das Internet ist aus einem Forschungsprojekt des amerikanischen Department of Defense hervorgegangen: Zwei Ziele waren damals vorrangig: Ein Kommunikationsprotokoll zu finden, das die verschiedenen inkompatiblen Subnetze innerhalb des militärischen Apparates verbindet, und damit ein Netz aufzubauen, das erstschlagsicher ist, das also trotz einer Ausschaltung einiger Knoten nach einem atomaren Angriff weitgehend funktionstüchtig bleibt. Diese beiden Anforderungen machen auch heute noch den Kern des Internets aus: Es ist ein dezentrales, sicheres und netzübergreifendes Kommunikationssystem.

Wahrscheinlich wäre jenseits des militärischen Bedarfs nach einer robusten Chatline zwischen den Bunkern für den Day After nie ein ähnliches Netz entstanden: Die kommerziellen Online-Dienste sind weitgehend zentralisiert, kaum ausfallsicher und arbeiten mit proprietären Technologien, die nur schwer in größere Zusammenhänge integrierbar sind.

Außer dem technischen Anforderungsprofil und einer Anschubfinanzierung zum Aufbau hat das Militär kaum Spuren hinterlassen. Die eigentliche Entwicklung wurde von Forschungsinstituten und Universitäten geleistet. 1969 entstand das Protointernet ARPANET, dessen erste Netzknoten vier Universitäten im Südwesten der USA waren.

Es war kein Zufall, daß sich Wissenschaftler bald darauf das neue Medium massenhaft zunutze machten: Das Internet ist nur eine Integration von zwei bereits existierenden Formen der Kommunikation im wissenschaftlichen Bereich: Der elektronischen innerhalb organisationsinterner Netze (meist auf UNIX-Rechnern) und der nichtelektronischen zwischen Angehörigen verschiedener Organisationen über Publikationen, Zusendungen von Preprints, Tagungen und Kongresse. Die erste Form der Kommunikation hat sich schon in vielen Institutionen auch außerhalb der Wissenschaft durchgesetzt, in keiner von diesen ist allerdings eine so unkontrollierte Kommunikation der Mitglieder über Organisationsgrenzen hinweg erlaubt, wie in Universitäten und Forschungsinstitutionen.

Das Netz wurde als globalisierte, elektronische Fortschreibung dieser beiden Kommunikationsformen begriffen: Es erlaubte einerseits den einfachen informellen Austausch, wie die CMC-Tools innerhalb der Organisation, andererseits bot es sehr bald Publikationsmöglichkeiten: Man konnte Dateien auf den institutseigenen Servern der Netzgemeinde zugänglich machen.

Eine knappe Ressource in der Wissenschaft, um die die Verteilungskämpfe entbrennen, ist der Veröffentlichungsraum. Das Netz löste den Teil des Knappheitsproblems, der technisch bedingt ist: Was zunächst entstand, war ein riesiger Marktplatz für graue Literatur, der in einigen Disziplinen das Volumen der "weißen" Literatur bald übertraf: 2 Das e-print-Archiv in Los Alamos (xxx.lanl.gov), das früher hauptsächlich die Hochenergiephysik abdeckte und jetzt noch einige andere naturwissenschaftliche Disziplinen behandelt, wächst jeden Monat um ca. 1600 Pre-Prints. 3

Die Publikation über das Netz ist extrem kostengünstig und schnell. Sie schafft ein weltweit zugängliches Dokument, das nicht nur sehr viel einfacher als graue Literatur, sondern auch als Veröffentlichungen in den Periodika aufzutreiben ist. 4 Zudem bietet das Netz neue Wege, sich publizierend in der Wissenschaft einen Namen zu machen, ohne an die Form der traditionellen wissenschaftlichen Veröffentlichung gebunden zu sein. Man kann seinen Ruf auch durch eine rege und qualitativ hochwertige Beteiligung an wissenschaftlichen USENET-Diskussionsforen etablieren oder z. B. ein Gopher- bzw. WWW-Verzeichnis relevanter Quellen erstellen.

Nichttechnisch bedingte Knappheitsprobleme im Veröffentlichungsraum beseitigt eine neue Technik natürlich nicht: Es wird immer weniger Raum in den Premiumperiodika einer Disziplin geben, als Artikel, die in ihnen veröffentlicht werden wollen. Insgesamt wird das Netz jedoch als Umgehung des bottle neck der Papier-Veröffentlichung begriffen und deswegen mit Inhalten gefüllt. 5 Da Wissenschaftler die Publikationsstrategie in ihrem Beruf auch privat oft fortschreiben, sind die Inhalte nicht an die Disziplinen gebunden, sondern befassen sich oft mit außerwissenschaftlichen Themen. Natürlich versuchen Wissenschaftler nicht, Inhalte zu verkaufen, da es ein ehernes Gesetz der wissenschaftlichen Publikation ist, daß der Produzent der Information normalerweise am meisten durch ihre Veröffentlichung gewinnt. Durch den geringen Aufwand der Publikation, die zudem meistens über institutseigenen Plattenplatz läuft, und nicht unbedingt auf Mittlerinstitutionen angewiesen ist, gibt es überhaupt keinen Anreiz, irgendwelche Kosten wieder hereinzuholen: Die Übertragung der wissenschaftlichen Publikationsstrategie auf ein neues Medium führt zur Geschenkökonomie, zu einer Situation in der alle Inhalte frei sind. Wie ernst diese neue Geschenkökonomie für den wissenschaftlichen Bereich zu nehmen ist, zeigen erste panische Reaktionen bei den kommerziellen wissenschaftlichen Verlagen, die offensichtlich die Gefahr sehen, völlig ausgeschaltet zu werden: 6 Ein kostenloses Journal, das peer reviewed ist, kann im Web jeder Wissenschaftler denkbar einfach aufsetzen.

Aber nicht nur die Formen der wissenschaftlichen Kommunikation haben in den neuen Medien eine Transformation durchlaufen, umgekehrt wurde die Technologie des Netzes selbst den Anforderungen der wissenschaftlichen Kommunikation angepaßt: Man kann das WWW z. B. als elektronische Implementierung des wissenschaftlichen Kommunikationssystems sehen. Die Links zwischen Dokumenten verschiedener Besitzer können als automatisierte Form wissenschaftlicher Literaturverweise gesehen werden. Weder Publikumszeitschriften, Belletristik, noch Firmenbroschüren setzen normalerweise systematisch Hinweise auf Dokumente anderer Besitzer.





3.2 Die UNIX-Szene

UNIX wurde in den Bell Labs von AT&T zur selben Zeit wie das Internet entwickelt. 7 Kommunikationsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Nutzern und Accountinhabern auf einem Rechner waren in UNIX schon vorgesehen, die Kommunikation und der Datentransfer zwischen den Netzen über das Internet wurde relativ rasch in das Betriebssystem implementiert, so daß das Netz bald zum größten Teil zwischen UNIX-Workstations lief.

AT&T fuhr anfangs drei Strategien, die UNIX zu einem Do-it-yourself-Betriebssystem machten: Erstens leistete das Unternehmen praktisch keinen Support für Anwender. Zweitens verteilte man den C-Quell-Code des Betriebssystems. Drittens gewährte man Universitäten freie Lizenzen. Der Grund dafür lag darin, daß AT&T lange kaum ein kommerzielles Interesse an UNIX hatte, weil man es eigentlich für den internen Gebrauch entwickelt hatte und sich aufgrund der amerikanischen Monopolgesetzgebung nicht zu stark im EDV-Geschäft engagieren durfte. Das Resultat dieser Produktstrategie war, daß UNIX von Tausenden von Leuten weiterentwickelt wurde, die einzelne Tools und Features einbrachten, und daß Portierungen auf sehr viele Systeme entstanden.

Unter UNIX wurden unzählige freie Tools entwickelt. Viele Programme die auf jeder Workstation zu finden sind, sind Freeware, wie z. B. "emacs", "gzip" oder "X-Windows". Ein Kind der UNIX - Gemeinde ist die Free Software Foundation (FSF), die seit Mitte der 80er Jahre unter dem Label GNU eine ganze Reihe von Tools und Applikationen für ein freies UNIX entwickelt. 8 Die FSF und ihr Spiritus Rector, Richard Stallman, waren sehr einflußreich in der UNIX-Gemeinde der 80er Jahre und traten eine Lawine von freien Softwareentwicklungen, die zunehmend über das Netz verbreitet, aber auch koproduziert wurden, los. Weit verbreitet ist das GNU-Lizensierungsmodell, die GNU-General-Public-Licence (FSF 1991): Sie gibt allen Nutzern das Recht, die Software in jeder denkbaren Form zu verwenden und zu modifizieren, erlaubt ihnen aber nicht, die entstehenden Resultate zu schützen und zu proprietärer Software zu machen: Es ist also ein System, das die Weiterentwicklung freier Software aus freier Software fördert, und das Geschenksystem offen hält: Man darf die Geschenke nicht zur Herstellung von proprietären Gütern nutzen.

Die Frage, warum sich unter UNIX eine rege Geschenkwirtschaft entwickelt hat, während bei dem viel verbreiteteren DOS bzw. WINDOWS lange Zeit nur ein sporadischer Share- und Freewareverkehr existierte, ist nicht so leicht zu beantworten. Die oben erwähnte Produktpolitik von AT&T führte zwar dazu, daß sehr viel an essentiellen Features des Betriebssystems von der Gemeinde selbst entwickelt wurde, das impliziert jedoch nicht, daß die Produkte frei gemacht werden. Folgende Erklärung wäre denkbar: 9 Wenn man für UNIX ein gutes Tool entwickelt oder etwas verbessert, kann man dafür Anerkennung bekommen, weil derjenige, der es benutzt, im Normalfall einschätzen kann, wie gut es ist. Workstations werden meist von Menschen mit einem gewissen Know-how bedient. Bei DOS-Nutzern ist dagegen die computer literacy - nach allgemeinem Dafürhalten der Programmierer - mit dem Einschalten des Gerätes schon fast überfordert. Ein normaler DOS-Nutzer kann einen guten hack niemals erkennen, ihm etwas Schönes zu schenken, wäre Perlen vor die Säue zu werfen. Außerdem ist die Anerkennung von UNIX-Nutzern insofern wertvoller, weil diese über Stellen in den Software-Labs der Forschungsinstitute und in den kommerziellen Entwicklungscentern disponieren, während der normale DOS-User wenig derartiges zu bieten hat.

Erst die Existenz einer intellektuell und machtmäßig qualifizierten Rezipienten-Gemeinde macht eine extrinsische nichtmonetäre Belohnung und einen strategischen Reward möglich. Vielleicht kann man hier eine Parallele zur Wissenschaft ziehen, bei der das, was für die Peers produziert wird, kein Geld bringt, während man als Wissenschaftsjournalist, als Autor von Lehrbüchern und populärwissenschaftlichen Werken wirklich verdienen kann.

Das Netz ist ein Katalysator sowohl der Zirkulation der freien Software als auch der Koproduktion: Die freie Software, die vorher zeit- und geldaufwendig herumgeschickt wurde, kann jetzt über das Netz versandt und bereitgestellt werden. Es entsteht eine sehr klare Trennung zwischen freier und kommerzieller Software: Konnte man früher noch etwas verdienen, in dem man ein paar Dollar Gebühren auf Trägermedien und Versandkosten draufgeschlagen hat, so ist jetzt freie Software völlig kostenlos. Das Netz bildet zudem einen Markt der freien Software, in den sich jeder einklinken kann. Der freie Softwareverkehr beginnt zu boomen. Auf der Produktionsseite wird die Zusammenarbeit sehr vereinfacht: Es entstehen lose Netze von Personen, die auf verschiedenen Kontinenten mit verschiedener Hingabe ein Programm koproduzieren. Ich werde in Kapitel fünf anhand der Programmiersprache Perl und in Kapitel sechs noch genauer auf diesen neuen Kooperationsstil eingehen.

Die UNIX-Gemeinde hat nicht nur vom Netz profitiert: Im Gegenzug hat sie für fast alle Kommunikationsanforderungen Freeware entwickelt. Das Netz läuft zu einem großen Teil auf freien Programmen, es wird mit freien Programmen aufgebaut und gewartet. Die wichtigste Implikation dieser freien Softwarebasis ist dabei nicht die Kostenersparnis für alle Teilnehmer, sondern daß dadurch lange Zeit verhindert wurde, daß kommerzielle Anbieter ihre proprietären Standards durchdrücken. Seit diese allerdings auch Mitspieler in der Geschenkökonomie geworden sind, haben einige Firmen wie Netscape oder Sun (mit Java) in Teilbereichen proprietäre de-facto-Standards etablieren können.





3.3 Die Technolinke

Die frühen Online-Medien waren nicht nur ein Tummelplatz von Wissenschaftlern und Nerds, sie wurden sehr bald von Leuten aus einem linken Kontext adaptiert. Die wohl einflußreichste Online-Community, das "WELL", ein Mailboxsystem, das allerdings erst später mit dem Internet verbunden wurde, ist eine Gründung von Ex-Landkommunarden und Herausgebern alternativer Zeitschriften. 10 John Perry Barlow, der Verfasser der "Cyberspace Independence Declaration" (Barlow 1996), das eins der wichtigsten und weitrezipiertesten Dokumente zum Selbstverständnis der Gemeinde ist, war ein Texteschreiber der Grateful Dead. Die Grateful Dead sind eine Hippierockband, die kein Copyright auf ihre Stücke geltend macht, sondern diese durch Konzertmitschnitte der Besucher veröffentlichen läßt.

Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in den USA eine starke Technolinke, die an einen gewissen technologischen Determinismus glaubt und der festen Überzeugung ist, daß die neuen elektronischen Kommunikationsmedien die Emanzipation des Menschen fördern werden. Barbrook und Cameron (1995) haben diese Weltanschauung "Californian Ideology" genannt und sehen sie als Resultat einer "bizarre fusion of the cultural bohemianism of San Francisco with the hi-tech industries of Silicon Valley". Genauer gesagt, entstand sie wohl aus einigen Überbleibseln der West-Coast-Hippie-Bewegung, die mit Netzerfahrungen und Hackeridealen angereichert eine neue Glaubenslehre des verdrahteten information worker ergab:

Elemente dieser Ideologie sind ein profunder Anti-Etatismus und der Glauben an das Individuum. Beide sind irgendwo zwischen Anarchismus und Neoliberalismus zu verorten. Dazu kommt eine feindliche Einstellung gegenüber dem Kapitalismus der großen Corporations und die Zuversicht, daß sich in den emergierenden Gemeinschaften der Netze der Prototyp einer neuen herrschaftsfreien Gesellschaftsform abzeichnet. Die Beziehungen zwischen den Individuen basieren hier idealerweise auf Zuneigung, gegenseitigem Interesse und Anerkennung. Das Geschenk, das aus altruistischen und intrinsischen Motiven heraus gegeben wird, ist die propagierte zukünftige Form des Gütertransfers. 11

Man mag mit diesen Glaubenssätzen übereinstimmen oder nicht, Fakt ist jedoch, daß ihre Propheten 12 lange Zeit die Lufthoheit über einen großen Teil des Internets und der nichtkommerziellen Online-Szene hatten: Ihnen ist es gelungen, ein Medium, das man sonst vielleicht einfach als praktisch und zukunftsträchtig eingeordnet hätte, politisch aufzuladen. Das Internet wurde zu einem implementierten Utopia. Wie bei jedem großen politischen Projekt setzte auch hier das Gefühl, an dem Nukleus einer zukünftigen Gesellschaft zu arbeiten, ganz andere Energien frei, als wir sie in alltäglichen Interaktionsformen erleben. Ein großer Teil dieser Energien floß in die Erstellung von Gütern, die verschenkt wurden.





3.4 Die Bedeutung der Geschichte

Inzwischen ist das Internet kein Wissenschaftsnetz mehr: Die Wissenschaftler als Produzenten und Nachfrager von Information werden zunehmend von kommerziellen und privaten Nutzern verdrängt. Das Betriebssystem, von dem die meisten User auf das Netz zugreifen, ist schon lange nicht mehr UNIX und auch die kalifornischen Ideologen sind den Propheten des schnellen Dollars im Netz zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Heißt das, daß die Geschenkökonomie mit ihren Promotoren bereits in der Masse der neu angekommenen Akteure untergegangen ist, die nur noch verkaufen und kaufen wollen?

Die Antwort darauf ist ein klares Nein. Wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde, ist das Geschenk weiterhin die dominierende Verkehrsform. Ein Grund dafür liegt darin, daß die Interaktionsgewohnheiten der ersten Siedler in Technik geronnen sind; sie wurden fest verdrahtet. Die von den frühen Nutzern geschaffen Medien haben einen Eigensinn, der eine Verwendung gegen ihren Entstehungskontext nur bedingt zuläßt:

Das Web z. B. wird durch das Geflecht der Links und durch Institutionen, die die Dokumente indizieren, ein durchsurfbarer Raum, der technisch eine so große Geschlossenheit aufweist, daß er auch von Automaten wie den Bots der Suchmaschinen durchstreifbar ist. Dieser Raum ist darauf angewiesen, daß hier Besitzverhältnisse einzelner Gebiete nicht thematisch werden. Zahlungsstellen unterbrechen nicht nur den Surfprozeß, weil sie den Surfenden dazu zwingen, Formulare auszufüllen, Kreditkartennummern hervorzukramen und sich Paßwörter aufzuschreiben. Was sehr viel schwerer wiegt, ist, daß die Errichtung einer Zahlungsbarriere das Netz zerreißt und die zahlungspflichtigen Angebote automatisch aus dem Raum hinauskatapultiert: Da die Bots der Suchmaschinen diese Angebote nicht indizieren können 13 und menschliche Ersteller von Indizes in der Regel die meisten kostenpflichtigen Angebote nicht abonniert haben, tauchen Verweise auf kostenpflichtige Seiten nur sehr selten auf. Dadurch werden die Nutzer kaum mit diesen Angeboten konfrontiert. Das Web hält sich selbst von kostenpflichtigen Sites frei, weil es die Integration dieser Seiten in das Geflecht der Links nicht erlaubt. Nur die Storefronts der kostenpflichtigen Server stecken wie ein Teil eines Fremdkörpers im Web. Obwohl elektronische Medien eine Unmenge von Pay-Per-View-Modi ermöglichen, muß ein Großteil der Firmen im Web wie die Wissenschaftler austauschen: Schenken und hoffen, daß das Geschenk so gut war, daß sich irgendwann einmal ein Pay-Off ergibt. Eine Befreiung von den Vorgaben aus der Geschichte wird den kommerziellen Anbietern erst gelingen, wenn sie es schaffen, Medien zu etablieren, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. 14

Im weicheren Bereich der Sitten und Gebräuche ist die Hegemonie der frühen Siedler nicht so stark. Aber auch hier gilt, daß sich Newbies lange Zeit eher den Gepflogenheiten des Netzes angepaßt haben, als umgekehrt: Obwohl das Gros der User bei dem rapiden Wachstum der Netzpopulation immer erst ein, zwei Jahre dabei ist, haben die tradierten Interaktionsregeln und Ideologeme normativen Charakter für die hineinströmenden Massen. Der Grund dafür liegt darin, daß die alten Hasen eine Vorbildfunktion, eine hohe Glaubwürdigkeit und die Definitionsmacht über den Geist des Netzes und die korrekten Verhaltensweisen besitzen, die in FAQs, netiquettes und Büchern über das Internet kodifiziert sind. Daß als Lebensstil begriffene Interaktionsformen eine über ihren Entstehungszusammenhang hinaus wirkende Ausstrahlungskraft besitzen, ist nicht internetspezifisch: Wir finden ein ähnliches Phänomen bei vielen kulturellen Bewegungen, in denen Lebensstile und deren Elemente, die in einem bestimmten Kontext wie den Ghettos von Los Angeles (Gangsta-Rap) oder den Kellern Ostberlins (Techno) geboren wurden, in Umgebungen nachgeahmt werden, in denen sie keinen direkten Sinn mehr machen, sondern einfach als Zeichen der Zugehörigkeit zu dieser bestimmten Bewegung verwendet werden. So kann die Tradition weiterleben, auch wenn sie pragmatisch gesehen nicht mehr sinnvoll ist.

Die ersten Nutzer des Netzes haben es also nicht nur geschafft, den Geschenkverkehr, der für sie aus den dargelegten Gründen Sinn machte, im Netz zu etablieren, sondern ihn auch technisch und ideologisch bis zu einem gewissen Grad als Form des zukünftigen Güterverkehrs festschreiben; ihm ein Beharrungsvermögen zu verleihen, das ihn auch bei Nutzergruppen mit einer anderen strategischen und weltanschaulichen Orientierung zu der vorgeschriebenen Verkehrsform macht. Sowohl die ideologischen als auch die technischen Vorgaben können jedoch im Lauf der Zeit überwunden werden: Jede Bewegung verliert irgendwann ihre Anziehungskraft und im Netz können sehr einfach neue Medien entwickelt werden, die den Verkauf erleichtern. Hier konnte ich nur den Grund dafür angeben, warum das Geschenk in den Anfangsjahren dominierte und noch eine kurze Zeit weiter dominieren wird. Die Frage, ob es auch längerfristig eine Geschenkökonomie im Netz geben wird, kann erst mit der Antwort auf die Frage geklärt werden, ob ein geschenkökonomischer Güterverkehr den Produktionsverhältnissen im Netz und den strategischen Zielsetzungen der Akteure gerecht wird. In Kapitel sechs und sieben sollen diese Probleme untersucht werden.



Fußnoten 1 Die Darstellung der Geschichte des Netzes orientiert an sich an folgender Literatur: Cerf (undatiert), Hardy (1995), Leiner et. al. (1997) und Sterling (undatiert).

2 Vgl. Binder (1996)

3 Jeweils aktuelle statistische Daten finden sich auf xxx.lanl.gov/cgi-bin/show_monthly_submissions

4 Vgl. Giles (1996)

5 Vgl. Boden (1991), die zeigt, daß die Größe des Veröffentlichungsraums eine Funktion der Bibliotheksetats ist (da wissenscgaftliche Zeitschriften kaum privat gekauft werden). Weil die engeren Bibliotheksetats seit den 80ern das Wachstum der Anzahl der Periodika beschränken, wird der Veröffentlichungsraum pro Wissenschaftler sehr viel knapper als das früher der Fall war.

6 Sosteric (1996: Kap. "Publisher's Prerogative") zitiert im Abschnitt einige Reaktionen von kommerziellen wissenschaftlichen Verlagen, die z. B. unterstellen, daß inakkurate Informationen in schlampig betreuten Netzjournalen Leben kosten können.

7 Zur Geschichte von UNIX vgl. z. B. Loukides (undatiert) und Salus (1994).

8 GNU bedeutet "GNU' s not UNIX". Zur FSF und zu GNU vgl. die Homepage (www.gnu.ai.mit.edu) und Wired (1993).

9 Den Kerngedanken dieser Erklärung verdanke ich einem mit mir befreundeten ehemaligen UNIX-Sysadmin.

10 Zur Geschichte des WELL vgl. Hafner (1997).

11 Vgl. dazu Rheingold (undatiert), der einer der einflußreichsten Netztheoretiker ist : "[...] the arrangement I'm describing [das sind die Gegebenheiten in den "net communities"] feels to me more like a kind of gift economy where people do things for one another out of a spirit of building something between them [...]", oder Stallman (1985) als Guru der freien Softwaregemeinde: "I consider that the golden rule requires that if I like a program I must share it with other people who like it. Software sellers want to divide the users and conquer them, making each user agree not to share with others. I refuse to break solidarity with other users in this way. I cannot in good conscience sign a nondisclosure agreement or a software license agreement."

12 Dazu gehören u. a. John Perry Barlow, Steward Brand, Mitch Kapor, Howard Rheingold, Richard Stallman und als Organisationen die Electronic Frontier Foundation (www.efs.org), die oben erwähnte Free Software Foundation, das frühe Wired und Mondo 2000.

13 Ein Bot kann eine solche Seite nicht aufrufen, da er das vor ihr liegende Vertragsformular nicht ausfüllen kann.

14 Zur Zeit wird das gerade mit den sogenannten Pushmedien versucht: Das sind Kanäle, in denen wie beim Fernsehen dauernd wechselnde Angebote auf den Rezipienten einströmen. Ob sich diese Technik allerdings durchsetzen wird, ist fraglich. Vgl. Wired (1997, 1).




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